Leseprobe "Der Beweis" von Michael Niggemann

Der Beweis

Jens Neumann geht auf das große Gebäude, das dunkelblau verputzt ist, zu und sieht an der Hauswand ,direkt neben dem Erker, die dort angebrachte Hausnummer. Neun. Er schaut auf die Hausnummer neun und nimmt die Geschäftigkeit in der Iserlohner Innenstadt nicht wahr. Jens Neumann hat Angst und er schwitzt, obwohl es Anfang November und die Luft eisig kalt ist. Es ist wieder einer dieser Momente, in denen er sich wie der fünf jährige fühlt. Sein Gesicht ist versteinert und die Beine zittern. Der große und achtundvierzig jährige Mann geht geduckt und seine Schultern stehen leicht nach vorne. Jetzt stand er vor dem Hauseingang und sprach die eingravierten Worte, die auf der vergoldeten und auf der Hauswand angebrachten Metallplatte standen, leise vor sich her: „ Dr. Sybille Weingärtner, Psychologie und Therapie.“ Er schluckte beschwerlich und spürte den deutlich dicken Kloß in seinem Hals. All seine verdammten, neu gelernten, Eigenschaften, hinderten ihn daran, auf den goldenen Klingelknopf zu drücken. Scheiß Angst, scheiß Unsicherheit und scheiß Hilflosigkeit, schrie er stumm in sich hinein. Prompt folgten zur Belohnung die üblichen Panikattacken. Die Erde um ihn herum fing an sich leicht zu drehen, dadurch breitete sich eine sehr unangenehme Übelkeit in ihm aus und er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Zeitgleich spürte er mit der einsetzenden Atemnot und dem Rauschen in seinen Ohren diese Stiche hinter seinem Auge. Es war sein waches Auge und er spürte so starke Stiche aus dem inneren des Auges, das er sich seine Hand schützend vor das schmerzende Auge halten musste. Sein Kopf wurde so schwer, das er sich wirklich sicher war, er würde von seinem Hals abbrechen. Die Attacken überkamen ihn immer wieder, unangekündigt und für kurze oder lange Zeit. Diese hier hielten an und das konnte bis zu zwanzig Minuten so sein. Dann war er für drei oder vier Tage völlig platt und zu nichts mehr fähig. Er versuchte sich zu konzentrieren. Elf Monate hatte er auf diesen Termin gewartet und er musste diesen Weg gehen. Er konnte nicht zurück. Jens Neumann brauchte den Beweis. Jetzt, für die Vergangenheit und für die Zukunft. Er drückte dreimal auf den goldenen Knopf und hörte die Stimme aus dem Lautsprecher: „Ja bitte.“ Er räusperte sich, drückte auf den schwarzen Knopf der Gegensprechanlage und wollte seinen Namen nennen: „Jens Neumann.“ Sybille Weingärtner wunderte sich und hörte nur ein unverständliches Gekrächze einer Männerstimme. Es war 14:50 Uhr und für 15:00 Uhr hatte Sie den Termin mit Jens Neumann. Da sie ein „ens“ und ein „eumann“ meinte herausgehört zu haben, drückte Sie auf den Türöffner. Jens Neumann hörte das summen des Türöffners und drückte mit der rechten Schulter gegen die ,in dunkelblau gestrichene, schwere Eichentür und betrat den Hausflur. Alles war in Holz gehalten und so atmete er den beruhigenden Duft aus altem Holz und lange beständigen Daseins ein. Beim besteigen der tiefbraunen Holzstufen knarrte es bei jedem Schritt und löste eine der vielen und bösen Erinnerungen in ihm aus. Sein Panikattacken hatten ihn indes nicht verlassen und es machte ihm seinen Weg ,für diesen wichtigen Beweis, nicht leichter. Sybille Weingärtner stand in der geöffneten Tür ihrer Praxis und wartete auf Jens Neumann. Es war sein erster Besuch bei Ihr und Sie war wie immer gespannt auf das optische Erscheinungsbild ihres neuen Patienten. Als Jens Neumann in Ihr Blickfeld geriet, konnte die Psychologin nicht vermeiden, das ihre rechte Hand sich auf ihren offenen Mund bewegte und diesen,mit einem aus ihrem Unterbewusstsein abgespeicherten Reflex, verdeckte. Ebenso schnell reagierte sie und führte ihre Hand wieder in die alte Stellung. „Herr Neumann ?“ fragte Sie und schaute auf den gebrochenen Mann, der vor ihren Augen die letzte Stufe erklomm. Jens Neumann schaute zu Ihr auf und nickte. Wie immer hatte er, an dieser Stelle der Attacken, das Gefühl zu kollabieren. Die Therapeutin ging auf ihn zu und unterstützte ihn mit ihrem rechten Arm.“ Ich helfe ihnen Herr Neumann.“ So gingen Sie gemeinsam in Ihre Wohnung, die gleichzeitig auch ihre Praxis war. Sie führte ihn in das Sprechzimmer und setzte Jens Neumann in einen schwarzen Ledersessel. „Möchten Sie etwas Wasser trinken Herr Neumann?“ Jens Neumann nickte wieder und nahm mit zitternden Händen das Wasser entgegen. Beim trinken lief etwas Wasser aus seinem rechten Mundwinkel, welches kalt an seinem Hals herunter rann und sich mit dem Schweiß vermischte, den er überall, kalt, auf seinem Körper spürte. Das Wasser tat gut und er war sicher, wieder sprechen zu können. Er entledigte sich von seinem grauen Schal,zog die braune, schwere, Lederjacke aus und legte die Sachen über die Sessellehne. Dann nahm er seinen brauen Hut ab und legte diesen über die Kleidung. Sybille Weingärtner sah Jens Neumann vor sich. Seine Haare waren nass geschwitzt, sowie sein dunkelgraues Hemd ebenfalls völlig durchnässt war. Der Schweiß roch neu und frisch und lief ihm an seinen Schläfen und seinem Hals immer noch herunter. Seine rechte Gesichtshälfte war verzogen und das rechte Auge weit aufgerissen. Das linke Auge war hingegen fast verschlossen. Das ganze Gesicht machte einen versteinerten Eindruck. Seine Schultern hingen herunter und sein Kopf war deutlich nach vorn gebeugt. Der Blick seiner Augen war starr. Er trug eine schwarze Jeans und schwarze Stiefeletten. Seine Knie waren aneinander und seine Hände hatte er zwischen seinen Innenschenkeln versteckt. Sein komplettes Erscheinungsbild erzeugte einen beängstigten Eindruck bei dem Betrachter. Sie schaute ihn an. „Sie hatten Panikattacken, Herr Neumann ?“ Er nickte und räusperte sich wieder. „Ja.“ Die Antwort war diesmal deutlich zu verstehen. „Möchten Sie noch etwas warten und sich erst erholen ?“ Jens Neumann überlegte. Er brauchte den Beweis, unbedingt. Er konnte es sich nicht leisten zu warten.

Jens Neumann schaute die Psychologin mit seinen asymetrischen Augen an und schüttelte mit dem Kopf. „Nein, das kann ich mir nicht leisten. Ich brauche den Beweis.“ Sie schaute ihn irritiert an und fragte ihn: „Den Beweis ? Welchen Beweis meinen Sie Herr Neumann ?“ Dem Druck dieser Frage konnten Jens Neumann nicht stand halten und es sprudelte seine komplette Verwirrtheit aus ihm heraus, so das die erfahrene Psychologin ihn bremsen musste. „In Ordnung Herr Neumann, wir gehen Schritt für Schritt vor. Ich habe hier einen Fragebogen, den ich gemeinsam mit Ihnen durchgehen möchte. Das ist leider immer der Anfang, bei einer Therapie.“ Jens Neumann war enttäuscht und hörte ihre Stimme wie durch einen Schleier. Er brauchte doch den Beweis, jetzt und hier. Er hatte schließlich elf Monate auf diesen Termin gewartet. Wie in Trance beantwortete er die Fragen der Psychologin. Dann wurde er durch sie plötzlich aus seinem schwarzen Loch gerissen.

„Herr Neumann, Herr Neumann ?“ Sybille Weingärtner erhob ihre Stimme. „Wir sind soweit, Herr Neumann. Geht es ihnen gut ?“ Jens Neumann erschrak und kam für einen Moment aus seinem schwarzen Loch heraus. „Ja, gut. Ganz gut, Frau Weinmann.“ „Weingärtner, Sybille Weingärtner, ist mein Name, Herr Neumann.“ Jens Neumann blickte sie teilnahmslos an: „Entschuldigung, Frau Weingärtner.“ Sie stand auf und ging auf ihn zu. Sie half ihm in die Jacke und reichte ihm Schal und Hut. „Ich fordere die Unterlagen an und dann machen wir den nächsten Termin. Der wird im Dezember sein. Hier ist ihr Terminzettel.“ Sie reichte ihm den Zettel auf dem 05.Dezember 2012 stand. Jens Neumann nahm den Zettel und schaute die Therapeutin mit den Augen des fünf jährigen an. „Danke, aber der Beweis.“ Sybille Weingärtner führte ihn zur Tür. „Sie kriegen ihren Beweis Herr Neumann. Aber zuerst benötige ich die Unterlagen. Wir sehen uns im Dezember. Sie schaffen das. Und im Notfall rufen Sie mich an.“ Der fünf jährige Jens Neumann stand allein in diesem großen Flur und die schwarzhaarige Frau verschwand hinter der weißen Tür. Traurig blickte er ihr hinterher. Er hatte all seinen Mut, all seine Hoffnung und Klarheit aus seiner kranken Seele zusammen gekratzt und stand jetzt Mutter-seelen-allein in diesem großen Flur. Der achtundvierzig jährige Mann mit dem braunen Hut nahm ihn an die Hand und ging mit ihm gemeinsam aus dem Haus, das so gut nach Holz und Geborgenheit roch.

Sybille Weingärtner saß in dem schwarzen Ledersessel und schaute auf die vier Seiten Fragebogen.

Sie hatte ihren Doktor an der Universität in Osnabrück gemacht und ihren Studienschwerpunkt auf die Verhaltensweise von Menschen gelegt. Ihre ausgezeichnete Doktorarbeit waren die Arten der Persönlichkeitsstörung mit freudscher Wiederlegung. Nach dem Studium hatte sie fünf Jahre lang einen Lehrstuhl an der Universität in Düsseldorf. Dort hatte Sie unter anderem als Beraterin für die Drehbücher der Bloch-Reihe mitgearbeitet. Diese Arbeit hatte Sie auch wieder zu ihrem innersten Wünschen geführt, die Arbeit mit kranken Menschen. Sie konnte und wollte helfen. Die Psychologin hatte für einen Moment ein schlechtes Gewissen, weil Sie Jens Neumann sich selbst überlassen hatte. Die Panikattacken waren offensichtlich und ebenso die Störung seiner Persönlichkeit. Doch was steckte dahinter ? Was meinte er mit dem Beweis ? Sie spürte wieder die enorme Spannung, die sich immer in ihr, am Anfang einer Therapie, aufbaute. Aber das negative Gefühl wollte nicht aus ihrem Bauch weichen. Sie hatte ihn mit sich allein gelassen und fühlte sich verantwortlich. Die Standuhr mit dem Pendel zeigte 17:50 Uhr und draußen war es dunkel. Sie schaute aus dem Fenster. Es schneite leicht und der Schnee blieb auf dem Bürgersteig liegen. Der Wind schaffte es mit kleinen Wirbelstürmen, die glatte, saubere und ordentliche weiße Fläche, die er bisher gebildet hatte, zu zerreißen und das Gefestigte, die Millionen von Teilchen, mit ihren erlernten und vererbten Erinnerungen, wurden von seinem Sog in das Nichts gewirbelt. Sie konnte von oben auf diesen Hurrikan schauen und sah in sein Loch, seine Seele. Hier war es ruhig, friedlich und klar und um die Seele herum bildetet sich eine Hülle, ein Korpus, wo das totale Chaos ausbrach. Nachdem der Sturm sich beruhigt hatte, legte sich die aufgewirbelte Materie wieder in die alte, erlernte, Ordnung und zeigte sich als saubere, ordentliche, weiße Fläche auf dem Bürgersteig. Jedoch war die Fläche inzwischen um einige Millimeter gewachsen und hatte sich durch den Prozess des Sturmes verändert.“So muss es in seiner Seele und seinem Leben aussehen“, dachte die Psychologin. Ich werde ihn anrufen. Er ist bestimmt schon in Wiblingwerde angekommen. Sie nahm ihr Mobil-Telefon von ihrem Arbeitstisch, der mit seinem Nussbraun-Ton wunderbar zu den dunklen Eichendielen harmonierte. Sybille Weingärtner tippte die Telefon-Nummer in ihr Handy, die sie vom Fragebogen ablas. 02352-304560. Sie drückte auf das grüne Symbol mit dem Telefon Hörer und hörte das Wahlsignal ihres Telefons. Sie ließ das Signal zwanzig mal zu. Das machte Sie immer, um dem Empfänger ihres Rufes auch die Gelegenheit des Annehmen zu sichern. Nichts passiert. Sie drückt auf das rote Symbol und brach den Vorgang ab. Dieser Vorgang verschlechterte ihr Gewissen und Sie setzte sich in den Sessel.

Und wenn er sich etwas antut ? Er war so enttäuscht, weil er seinen Beweis nicht bekommen hatte.

Ihr Professor meldete sich aus ihrem Inneren:“ Sybille, Du darfst keine Emotionale Bindung aufnehmen oder zulassen. Es zählen nur die Sachverhalte. Er ist für sich selbst verantwortlich.“

Ihre Erfahrung meldete sich:“ Ich gehe meinen Weg. Ich bin ein Querdenker und mache meine eigenen Erfahrungen. Schlechte sowie Gute.“ Der Professor:“ Du kannst die Verantwortung für Experimente nicht tragen. Du musst dich an die Lehre halten.“ Sie atmete tief und lange ein und ließ die Luft langsam durch die zusammen gepressten Lippen wieder raus. Dann reagierte sie auf sich selbst und tat in solchen Momenten, dass was sie auszeichnete. Sie hörte auf ihr Gefühl und das führte die Psychologin in ihre warmen Winterstiefel, den grauen Wollmantel und zu der schwarzen Wollmütze, die sie über ihren Kopf stülpte und ihre langen, schwarzen, Haare hinter ihren Ohren fixierte. Sie nahm den Autoschlüssel und ihren Wohnungsschlüssel in der Garderobe vom nussfarbenen Schlüsselbrett, öffnete die Eingangstür und verschloss diese im Flur stehend. Sie atmete tief durch, roch den wohltuenden Holzgeruch der alten Dielen und spürte das Gefühl der Geborgenheit in sich, den dieser Geruch immer in ihr an diesem Ort auslöste. Mit diesem Eindruck, der ihr Sicherheit verschaffte, saß sie in ihrem schwarzen VW Beetle und fuhr bei heftigem Schneetreiben von der Iserlohner Altstadt Richtung Wiblingwerde. Sie hatte die Anschrift von Jens Neumann in das Navi eingegeben und vertraute auf Ihrem Weg der gefühllosen Stimme aus dem Lautsprecher ihres Navigationgerätes. Der Schneefall hatte sich während der Fahrt gesteigert und erreichte nun die typischen, chaotischen Zustände, wie immer beim ersten, heftigen, Schneefall hier im Sauerland. Sie hatte inzwischen die Serpentinen, die von Nachrodt in die Höhe nach Wiblingwerde führen, erreicht. Die Therapeutin schaffte es bis zur ersten Kehre und traf dort auf liegen gebliebene Weggefährten. Mit Sommerreifen bestückt und aus Gegenden kommend, in denen Schnee nur aus der Wetterkarte vom Fernseher bekannt war. Sie ließ sich zurück rollen und parkte den Beetle am Rande eines Feldes. Mit ihrem Navi und einer Taschenlampe machte sie sich an den Aufstieg in die Höhen von Wiblingwerde. Der Schnee wirbelte fallend durch die Luft und der kalte Wind kühlte die warmen Polster in ihren Schuhen und unter ihrem Mantel empfindlich ab. Fröstelnd und mit der Sorge um Jens Neumann folgte sie dem Weg und der toten Stimme des Navis.

Die Geräusche der liegen gebliebenen verstummten und das Licht ihrer Scheinwerfer verlor sich im Dunkel des Abends. Sie war allein mit sich, ihrer Taschenlampe und der quaselnden Stimme des Scouts. Der Scout befahl ihr dann in Eilerde nach rechts ab zubiegen. Sie sah die wenigen Lichter in diesem Dorf und in der Ferne die Lichter aus Wiblingwerde. Die Sorge um Jens Neumann verdrängte die Angst, die sich in ihr ausbreitete. „In vierzig Metern haben Sie ihr Ziel erreicht.“ Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf das Straßenschild. Dorfweg. Dann erreichte sie ihr Ziel und leuchtete auf das Haus. Nummer zwei. Hier war alles dunkel. Die Rolläden überall herunter gelassen. Sie leuchtete den Eingang ab. Zwei Namensschilder mit daneben angebrachtem Klingelknopf. Martina Breuer, Bernd Brinker. Sie leuchtete nochmals auf die Hausnummer. Zwei. Das Navi zeigte ebenfalls mit Ziel die Dorfstraße an. Sie kramte die Papiere des Fragebogen aus ihrer Manteltasche und leuchtete auf die von Jens Neumann genannte Adresse. Dorfstraße 2 in Wiblingwerde. Sybille Weingärtner war enttäuscht. Jens Neumann hatte sie belogen. Gezielt manipuliert. Aber welchen Grund sollte er dafür haben ? Er war verzweifelt und auf der Suche nach dem geheimnisvollen Beweis. Sie gab sich einen Ruck und klingelte bei Martina Breuer. Zweimal.

Durch die kleinen, bunten, Mosaike der Haustür konnte sie sehen, wie im Flur das Licht anging. Eine Frauenstimme meldete sich:“ Wer ist da. Was wollen Sie ?“ Die Psychologin antwortete fröstelnd und unsicher:“ Mein Name ist Sybille Weingärtner. Ich bin auf der Suche nach Jens Neumann.“ Das umdrehen eines Schlüssels in einem Schloss war zu hören. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt, bis sich die Sicherheitskette spannte und ein weiteres öffnen nicht mehr zulies.

Die Augenpaare der beiden Frauen blickten sich für einen Moment an.“Haben Sie einen Personalausweis?“ Sybille Weingärtner packte in ihre Innentasche des Mantels.“Moment, in meiner Geldbörse. Ich suche ihn raus.“ Sie suchte mit zitternden und kalten Fingern den Ausweis und hielt ihn durch den Spalt der Haustüre. Die Sicherheitskette wurde entriegelt und die Tür öffnete sich.“Entschuldigen Sie bitte. Aber in dieser Einsamkeit muss ich als Frau doppelt vorsichtig sein.

Kommen Sie doch bitte herein.“ Die Psychologin betrat den Flur und die Wärme eines Kaminofens hieß sie willkommen. „Schön warm hier bei Ihnen.“ Martina Breuer führte sie in die Bauernstube.

Holzdielen, kleine Fenster in dicken Mauern, ein großer Kaminofen, eine hölzerne Sitzecke und eine lederne Sitzgruppe im kolonial stil. „Legen Sie doch ab. Ich hänge die Sachen zum trocknen neben den Kaminofen.“ Die Therapeutin legte die nassen Sachen ab und die Hausherrin hing die Sachen auf die Bügel an die Leine, die von der Kaminwand zur Zimmerwand verlief. „Nehmen Sie doch bitte platz.“ Martina Breuer zeigte auf die Sitzgruppe neben dem Kamin. „Darf ich ihnen einen heißen Tee anbieten ? Oder etwas anderes ?“ „Tee und heiß wäre jetzt der Knaller.“ Martina Breuer ging in dem großen Raum in die Küchenzeile und stellte den Wasserkocher an. Die Frauen schwiegen in dieser Zeit. „Mit Zucker, Frau Weingärtner ? Oder einen Schuß Rum, oder beides ?“

Die Psychologin schüttelte mit dem Kopf. „Einfach nur den Tee.“ Die Frau kam mit zwei Tassen dampfenden Tees zum Tisch und setzte sich. Während sie tranken schauten sie sich beobachtend an.

Die Therapeutin ergriff zu erst das Wort und brach die angenehme Stille.“Auf dem Klingelschild steht Bernd Brinker. Und ich habe Sie nach Jens Neumann gefragt.“ Sie schaute beim reden in das Gesicht der Gesprächspartnerin am Tisch gegenüber sitzend. Das Gesicht blieb entspannt bei ihren Sätzen. „Ich hoffe sie haben Zeit Frau Weingärtner. Das ist eine lange Geschichte, die ich über Jens Neumann zu erzählen habe.“ Sybille Weingärtner zog die Augenbrauen hoch. „Ist er denn hier ? Ich mache mir Sorgen um ihn.“ Martina Breuer setzte die Teetasse ab. „Heute Mittag ist er nach Iserlohn. Seit dem ist er noch nicht zurück. Manchmal geht er Abends noch in den Dorfkrug in Wiblingwerde und kommt dann so gegen zehn.“ Die Psychologin wollte Klarheit und würde warten.“Na dann erzählen sie mal von Jens Neumann Frau Breuer.“

 

Achim Stupperich schaute von seinem Schreibtisch hoch. Die Reno-Mitarbeiterin stand in der Tür.“Herr und Frau Neumann wären jetzt da, Herr Stupperich.“ Er stand auf und ging auf die Reno-Mitarbeiterin zu. „Danke Anika.“ Dann ging er auf Herrn und Frau Neumann zu. „Guten Tag Frau Neumann, guten Tag Herr Neumann. Mein Name ist Achim Stupperich. Kommen Sie doch bitte herein und nehmen sie platz. Kann ich ihnen etwas zu trinken anbieten ? Kaffee, Wasser ?“

Die beiden schüttelten mit dem Kopf und setzten sich auf die Stühle vor den großen, mahagoni farbigen Schreibtisch. Der Rechtsanwalt schloss die Tür und setzt sich in den großen Ledersessel.

„Was kann ich für Sie tun, Frau und Herr Neumann ?“ Die beiden schauten verlegen auf den Boden und Marianne Neumann ergriff das Wort. „Das ist nicht so einfach in Worte zu fassen Herr Stupperich.“ Sie schaute ihn an und er sah die Kämpfe der letzten Wochen in ihrem Gesicht. Er schätzte die Frau auf Mitte sechzig. Ihre Augen waren gerötet und die Ränder ihrer Augen dunkelbraun. Das grün ihrer Augen war matt und der Blick leer. Etwas sehr schlimmes musste sie erlebte haben. „ Reden Sie einfach wie Sie können. Ich stelle dann schon Fragen, wenn notwendig.“

Beide nickten und sie redete weiter. „Also gut. Es geht um unseren Sohn. Jens. Wir haben seit sechs Jahren nichts mehr von ihm gehört. Er wurde vor sieben Jahren geschieden und hatte einen Burn out. Wegen einer Psychotherapie teilte er uns mit, dass er bis auf weiteres zu uns und auch dem Rest der Familie keinen Kontakt mehr wünscht. Schweren Herzens hielten wir uns alle daran. Aus verschiedenen Quellen erhielten wir immer nur Bruchstücke aus seinem Leben. Über die Enkelkinder, seine Kinder, das sie keinen Kontakt mehr zu ihm haben. Er seinen Job als Führungskraft verloren hatte. Ein gebrauchtes Haus gekauft und kurze Zeit später wieder verkauft hat. Schulden hat. Dann, ungefähr vor einem Jahr, tauchte er mit einer Website im Internet als Schriftsteller auf. Er veröffentlichte Kurzgeschichten über Schreibwettbewerbe und wurde bekannter. Und jetzt tauchen bei uns die ersten Journalisten auf und bedrohen uns.“

Der Rechtsanwalt verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Josef Neumann ergriff das Wort:“Das ist Verleumdung. Das lassen wir uns nicht bieten.“ Achim Stupperich räusperte sich. „Verstehe. Aber mit was werden sie durch wen bedroht ?“ Josef Neumann sprang aus seinem Stuhl hoch und der Zorn stand mit tiefer, roter, Farbe in seinem Gesicht geschrieben. „Mit dem Kindesmissbrauch bedrohen sie uns.“ Achim Stupperich musste schlucken. Kindesmissbrauch. Das übelste Thema für einen Rechtsanwalt. Ohne einhundert prozentige Beweisführung ein Prozess, bei dem alle Beteiligten nur verlieren können. Und der Rechtsanwalt seinen guten Ruf.“ Beruhigen Sie sich Herr Neumann. Ich kann ihre Aufregung und Wut verstehen. Doch wir müssen sachlich bleiben und ich muss genau verstehen woher die Bedrohung kommt und wer ihnen was, wann, wie, vorwirft.“ Frau Neumann meldetet sich zu Wort. „ Er schreibt es auf seiner Website und in seinen Geschichten. Es geht immer um den Missbrauch von Kindern.“ Der Rechtsanwalt verzog die Stirn und fragte: „ Hat ihr Sohn Sie denn konkret des Missbrauchs an ihm beschuldigt ? Auf seiner Website oder in seinen Geschichten ?“ Josef Neumann antwortete, immer noch mit hoch rotem Kopf: „Er nicht. Aber die Journalisten. Und seine Geschichten kennen wir nicht.“ Achim Stupperich verzog die Stirn noch mehr und schaute beide an: „Frau Neumann, Herr Neumann, wenn dieses sehr sensible Thema nicht konkret ist, dann kann ich auch niemanden anklagen. Wenn sie mir die Namen der Journalisten nennen, dann können wir eine Unterlassung bei den Verlagen einklagen und auch eine Sicherheitszone von bis zu zweihundert Metern. Aber bei Telefon und Internet wird es schon problematisch. Lassen Sie sich eine Geheimnummer geben und ändern Sie ihre e-mail-adresse. Und kein Verkehr im Socialnet wie Facebook oder Twitter.“ Josef Neumann antwortete: „Das ist alles ? Wir haben keine Namen von den Journalisten. Wir hören nur die Fragen mit den Vorwürfen. Wir wollen unsere Ruhe haben und unseren guten Ruf nicht in den Dreck ziehen lassen.“ Der Rechtsanwalt nickte: „Das kann ich sehr gut verstehen und das ist auch ihr gutes Recht. Aber im Moment haben wir für das Gesetz nichts konkretes. Sie würden Geld an mich bezahlen und nichts würde sich verändern. Verstehen Sie das ? Gibt es denn Berichte im Internet oder in Zeitschriften gegen Sie ? Frau Neumann schüttelte den Kopf: „Nein, zumindest uns nicht direkt bekannt.“ Achim Stupperich erhob sich aus seinem Sessel: „ Sehen Sie. Ich übernehme das Mandat und werde ihnen helfen. Machen Sie Fotos, Vidioaufnahmen von den Journalisten, wenn Sie nochmals kommen sollten. Versuchen Sie Namen von den Journalisten oder den Verlagen zu bekommen. Dann schlagen wir erbarmungslos zu. Lassen Sie sich bei meiner Mitarbeiterin einen neuen Termin geben und zeichnen Sie bitte die Vollmachtsformulare, die Sie Ihnen vorzeigen wird. Wenn Sie sich in Not fühlen, dann rufen Sie mich an. Zu jeder Zeit. Sie werden wieder Ruhe haben, das verspreche ich Ihnen.“ Er führte die beiden zur Anmeldung und verabschiedete sich. An seinem Schreibtisch angekommen, öffnete er sein Laptop. Er tippte die Website von Jens Neumann in die Google Zeile und drückte auf Enter. Die Website erschien in schlichter Ausführung mit dem Namen von Jens Neumann und dem Zusatz Schriftsteller. Er klickte auf den Link und die Seite öffnete sich. Im Hintergrund war ein weinendes Kind zu hören. Das Geräusch erzeugte unbehagen bei Achim Stupperich. Er hatte selbst zwei gesunde Kinder und mit dem Gedanken an Missbrauch an Kindern und mit diesem Geräusch des weinenden Kindes kamen Zweifel in ihm an Herrn und Frau Neumann auf. Einfach so. Die Seite öffnete sich und der Einführungstext erschien. Es klopfte an der Tür. Anika stand in der Tür. „Frau Grünbaum wäre für den nächsten Termin hier.“ Achim Stupperich klappte den Laptop wieder zu und das weinende Kind verstummte. Er ging mit einem aufgesetzen und künstlichen Lächeln auf die nächste Kundin zu und begrüßte sie. „Frau Grünbaum, ich grüße Sie. Kommen Sie doch bitte herein und nehmen Sie platz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten ? Kaffee, Wasser ?“ Die Frau namens Grünbaum nahm platz und schaute ihn erwartungsvoll an: „Kaffee, mit Milch und Zucker bitte.“ Achim Stupperich ging zur Tür: „Anika, bitte zweimal Kaffee mit Milch und Zucker. So Frau Grünbaum, dann erzählen Sie mal. Was kann ich für Sie tun ?“...

 

 

Konferenz in der Westfalen Rundschau in Dortmund, Hansaplatz 15. Der Redaktionsleiter Gerd Hauptmann schaute auf das Tagesprotokoll. „ Was ist denn jetzt mit diesem Jens Neumann ? Anja, das ist doch dein Verantwortungsbereich.“ Anja Wendt schaute hoch: „Ja, Gerd. Genau.“ Hauptmann lief mittelrot an: „Muß ich euch denn alles aus der Nase ziehen ? Ich möchte jetzt detaillierte Informationen und dann mit dir über das mögliche Szenario sprechen, Anja.“ Anja Wendt klappte den Deckel des Laptop auf, gab drei Befehle über die Tastatur: „Jens Neumann. 48 Jahre alt und wohnhaft in Plettenberg. Adresse nur als Postfach bekannt. Hat unseren Schreibwettbewerb 2012 mit dem Thema „Wenn aus kleinen Kindern kranke Erwachsene werden“

mit dem ersten Preis gewonnen. Seine Geschichte „Der Beweis“ wird dann vom Gehst Verlag verlegt.“ Gerd Hauptmann beugte sich am Tisch vor: „Ja Anja ? Was ist mit dem Interview über unsere Zeitung ? Pressebericht ? Lesung ? Hallo, noch jemand da, Anja ?“ Anja Wendt merkte, wie ihr die Röte des Schams in das Gesicht floss und sie wünschte sich eine Minute Auszeit, um mit Schminke die Wahrheit des Momentes verdecken zu können. Doch alle im Raum konnten jetzt ihre Lücken, die sie in dieser Sache Jens Neumann hatte, deutlich an ihrem farbigen Gesicht ablesen. Sie, die sonst so Perfekte, hatte Lücken. „Er ist weg. Verschwunden. Meldet sich nicht.“ Der Redaktionsleiter stand vom Tisch auf und ging auf Anja Wendt zu. Alle schauten zu Boden um seinem wütenden Blick zu entgehen. Anja Wendt spürte ihre Angst und den Schweiß ihrer Angst, der erst heiß war und dann kalt von ihren Achseln bis zur Hüfte herunterlief. Hauptmann stellte sich hinter sie und legte seine großen Hände mit den Wurstfingern und abgekauten Fingernägeln auf ihre Schultern und drückte ihrer Schultern leicht nach unten. Sie traute sich nicht aus der Situation des Machtmissbrauchs zu entziehen. Ihre Angst lähmt Sie, wie den Hasen, der vom Fuchs gestellt war. „Ich gebe Ihnen genau achtundvierzig Stunden ab jetzt. Dann haben Sie Jens Neumann gefunden, ein astreines Interview geführt und mir einen Pulitzer-Preis reifen Gesamt-Bericht, druckreif, vorgelegt. Und jetzt raus mit Ihnen.“ Die junge Redakteurin packte ihren Laptop und ihre Schreibutensilien, stand vorsichtig von ihrem Platz auf und verließ, wie befohlen, den Redaktionsraum. Die soeben missbrauchte ging in ihrem Schockzustand direkt in das Parkhaus und stieg in ihren blauen Renault Twingo. Wie durch einen Schleier sah sie die Bilder der letzten Minuten und hörte verzerrt die Worte des Monsters:“ Achtundvierzig Stunden. Neumann gefunden. Raus mit Ihnen.“ Sie beruhigte sich wieder und versuchte Klarheit zu erlangen. Die Redakteurin kannte sich und wollte mit aller Gewalt und Macht eine Karriere in diesem Metier machen. Diese Stelle sollte ein Sprungbrett werden und sie würde dafür über Leichen gehen. Zu sehr erinnerte sie sich an die vielen schmerzlichen Momente, die ihr in der Kindheit von ihrem Vater zugefügt wurden. „Mädchen, das kannst Du nicht. Das schaffst Du niemals. Dafür hast Du kein Biss. Um das zu erreichen, musst Du ein Mann sein.“ Niemals machte sie ihm etwas recht und sie konnte sich nicht an Liebe, Zärtlichkeit, Umarmung, Lob, Wärme oder Bindung zu ihrem Vater erinnern. Er sprach sie immer nur in der dritten Person an. Mädchen, mein Mädchen und niemals mit Ihrem Namen. Als sie von zu Hause geflüchtet war, schrie sie Ihn an: „Mein Name ist Anja.“ Dann nahm sie ihre Reisetasche und verschwand. Seit diesem Moment hatte sie ihre Eltern nicht mehr gesehen und gesprochen. Heute war sie kalt und ging für ihren Erfolg über Leichen. Sie würde es dem fetten Schwein mit seinen schmierigen Fleischfingern zeigen. Er wird seinen Beweis bekommen. Anja Wendt dachte nun klar und logisch. Der Brief an Jens Neumann mit der Benachrichtigung seines ersten Platzes am Schreibwettbewerb war Gestern raus. Sie kannte sein Postfach und den Ort des Postfaches. Sie tippte die Adresse in ihr Navi ein und fuhr los in Richtung Iserlohn...