Bitte mehr davon

 

Bitte mehr davon, vom ersten mal

 

 

 

Der Wecker vom Handy klingelt. 07:30 Uhr. Alex schaut verschlafen zu mir rüber: „Guten Morgen Schatz. Jetzt ist es soweit. Bist Du aufgeregt ?“ Ich drehe mich zu ihr und küsse sie. „Ein bisschen, und Du? Schließlich ist es ja heute das erste mal.“ Wir stehen auf und Balou, unser Hund, freut sich und begrüßt uns mit Nasenstuppsern. Der Kater Kuddel wartet schon miauend im Wohnraum.Wir machen uns fertig und im Wohnraum riecht es nach frischem Kaffee. Im Radio läuft die Musik von Radio MK, unserem Lieblingssender. Jetzt merke ich, wie die Aufregung in mir hoch kriecht und sich damit eine angenehme Spannung aufbaut. Es kribbelt sogar ein bisschen. Wir frühstücken und packen anschließen gemeinsam unseren Koffer. Das wichtigste liegt schon im Auto und es wird von mir bewacht, wie ein Goldschatz bei einem Sicherheitstransport. Um elf wollen wir fahren. Die Fahrzeit laut Navi soll dreieinhalb Stunden dauern. Über Land, weil Alex keine Autobahn fahren kann. Ich packe unsere Sachen in das Auto und wir verabschieden uns von unseren Tieren. Alex Sohn kommt ja gleich und ist bei den Tieren. Die Zieladresse wird in das Navi eingegeben und wir machen uns auf den Weg. Es ist ein typischer Novembertag mit dichten, grauen, Wolken am Himmel. Zum Glück ist es trocken. Wir hören Musik und quatschen über dieses und jenes. Dann passieren wir Remscheid und fahren Richtung Düsseldorf. Ich schaue Alex an, wie sie hier neben mir auf dem Beifahrersitz an meiner Seite ist. Sie schaut aus dem Fenster und ruht in sich. Es ist ein Moment der Stille und des Friedens. Wir fühlen uns frei und die Fahrt in das Unbekannte könnte unser ganzes Leben anhalten.

 

Sie schaut zu mir rüber und sieht, wie ich sie anschaue. „So sehr“, sage ich. Sie nickt und streichelt meine Hand. Hinter Düsseldorf überqueren wir den Rhein und fahren Richtung Viersen. „Wollen wir eine Pause machen ?“ frage ich Alex. Sie schüttelt den Kopf. „Ist ja nicht mehr weit. Jetzt können wir auch durchfahren.“ Gegen 15:00 Uhr meldet sich die Stimme des Navis: „Sie haben ihr Ziel erreicht. Ihr Ziel liegt rechts.“ Wir parken das Auto und gehen zur Haustür. Ich klingel und es dauert einen Moment, bis die Tür geöffnet wird. Ich stelle mich vor. „Ich hatte für heute gebucht, ein Doppelzimmer.“ Die Pensionswirtin schaut mich fragend an: „Ich habe ein Einzelzimmer im Kopf.“ Ich schüttle mit dem Kopf und bin sauer. Das erste mal hatte schon jetzt ein Panne. „Nein, ich hatte bei der Buchung ein Doppelzimmer reserviert. Weil wir ja zu zweit sind.“ Die Wirtin ist beleidigt und bittet uns erst mal rein. Sie überlegt. „Ich kann ihnen den Raum Nummer acht geben, der ist fertig und ein Doppelzimmer.“ Wir bekommen die Schlüssel und schauen uns den Raum an.

 

Alex schaut mich an und wir denken beide das gleiche. Und es ist zu kalt in diesem Raum. Völlig ausgekühlt. Ich stelle die Heizungen an und frage Alex:“Wollen wir bleiben oder was anderes suchen ?“ Alex schüttelt den Kopf. „Wir bleiben.“ Ich hole die Sachen aus dem Auto und wir richten uns ein. Wir legen uns auf das Bett und packen uns in unsere mitgebrachte Wolldecke ein. Wir sind heute fünf Jahre zusammen. Es gab bisher keinen Tag, den wir ohne den anderen verbracht haben. Und doch ist es heute das erste mal für uns beide. Um 19:00 Uhr wird es soweit sein.

 

 

 

Um 18:40 Uhr stehe ich mit Alex vor dieser wunderschönen Burg in Brüggen. In meiner Hand halte ich es fest umklammert. Ich würde es um keinen Preis der Welt mehr hergeben und mit meinem Leben verteidigen. Und ich erinnere mich an diese Momente, in denen ich die komplette Facette der menschlichen Gefühle durchlaufen habe. Den Mut zu fassen, das erste mal, mit einer Kurzgeschichte an einem Schreibwettbewerb teilzunehmen. Sich an ein vorgegebenes Thema zu halten,Regeln für das schreiben einzuhalten und zu beachten. Die Geduld des warten auf eine eventuelle Antwort oder Absage. Versagens-Ängste schleichen sich in die lange Zeit des warten ein. Meine Antriebslosigkeit in den scheiß depressiven Phasen verstärkt sich dadurch. Und dann hole ich den Umschlag aus dem Briefkasten. Er ist leicht verknittert. „Wehe dir“, denke ich und würde den Postboten ermorden, wenn es durch seine Unachtsamkeit zerstört worden ist. Ich schaue auf den Absender. Ja, es ist der Verlag. Wie ein Archäologe, der gerade seinen größten Schatz geborgen hat, trage ich den Umschlag vorsichtig in unser Haus. Ich bin allein mit ihm. Behutsam öffne ich das Päckchen. Und dann sehe ich es vor mir. Lese den Titel. Rieche an ihm, dem Buch. Halte es in meinen Händen und schlage es auf. Ich finde meinen Titel und es steht mein Name darüber. Es ist das erste mal für mich. Ich bin glücklich und stolz. Ein Gefühl, das bei mir selten vorhanden ist. Dann hole ich Alex von der Diakonie ab und zeige es ihr. Wir freuen uns und sie küsst mich. Dann schaut sie mich an uns ich höre ihre Worte immer noch:“Ich bin stolz auf dich, mein kleiner Autor.“

 

Dann werde ich aus meinen Gedanken gerissen und höre die Frage einer Besucherin:“Wollen sie auch zur Lesung ? Die Eingänge sind noch zu.“ „Auch“, antworte ich lächelnd und in diesem Moment werden die Türen zum Eingang geöffnet. Wir gehen hinein, ersteigen die Stufen der Rundtreppe bis zum zweiten Stock und betreten den Raum, in dem ich heute das erste mal meine Geschichte vorlesen werde. Gemeinsam mit Alex an meiner Seite gehen wir auf die Gastgeberin zu und ich stelle uns vor. Es ist eine herzliche Begrüßung. Ich freue mich über das persönliche Kennenlernen und die Aufnahme meiner Geschichte in die Anthologie, die schon in die zweite Auflage geht. Ich bin nicht nervös und somit wird festgelegt, dass meine Geschichte als zweite, von insgesamt fünf, am heutigen Abend vorgetragen wird. Wir holen uns etwas zu trinken und suchen uns einen Platz. Dann kommen die ersten Fragen in Verbindung mit meinen ständigen Begleitern, Hilflosigkeit, Unsicherheit und Angst. Jetzt bloß keine Panikattacken, flehe ich mich selber an. Und wenn ich mich im Text verlese ? Werde ich den richtigen Ausdruck mit meiner Stimme schaffen können ? Zittert meine Stimme vielleicht und die Menschen merken meine Angst ? Und kommt die Geschichte überhaupt an ? Ich werde aus meiner Stille gerissen und die Gastgeberin begrüßt die mehr als fünfzig Besucher. Es ist inzwischen der vierte Literaturherbst mit einer Anthologie, die es in einer solchen Qualität noch nicht gegeben hat. Auch die heutige, vierte, Lesung ist wieder mit Besuchern voll besetzt und sie erinnert daran, wie alles angefangen hat. Sie bedankt sich bei den Organisatoren und den Besuchern. „Ich wünsche ihnen einen schönen Abend mit Geschichten und Gedichten aus unserer Anthologie „Wenn der Lärm verstummt, bis Stille ist in dir“, höre ich sie noch sagen und dann wird schon die erste Autorin zur Lesung aufgerufen. Es handelt sich um ein Gedicht und die Autorin ist nervös und aufgeregt. Nach zwei Minuten hat sie es geschafft. Applaus. Dann wird mein Name aufgerufen und ich werde zum Leseplatz gebeten. Ich sitze ganz hinten im Raum und komme nicht mehr durch die Stuhlreihen. „Keine Angst, ich laufe nicht weg. Ich komme jetzt zu Ihnen“, rufe ich in den Raum und gehe dabei über das andere Ende des Raumes zum Leseplatz. Lachen im Publikum. Das ist gut, das entspannt. Das Publikum und mich. Ich setze mich in den Lesestuhl, schaue in das Publikum und bin dabei völlig entspannt. Ganz kurz stelle ich mich vor und erkläre, was mich zum schreiben geführt hat. Meinen Schatz, das Buch, halte ich dabei fest umklammert in meinen schwitzenden Händen. Es folgt mein Dank an die Gastgeberinnen, den Verlag und an meine Alex. „Durch dich bin ich zum schreiben gekommen. Danke Alex. Ich liebe Dich. Sie hören jetzt eine Geschichte, mit der Sie und ich, eines der größten Geheimnisse der Menschheit lösen werden, aber hören sie selbst. Meine Begegnungen mit der Zeit.“

 

Ich beginne mit dem lesen meiner Geschichte und spüre mit den ersten gesprochenen Worten, das die Geschichte, das Publikum und ich eins sind. Ich lese langsam und ruhig. An den wichtigen Stellen kurze Pausen, damit das mitgeteilte etwas sacken kann. Immer wieder schaue ich kurz zu meinem Publikum. Es ist ein magischer Moment geschaffen, genau wie in der Geschichte, die ich gerade lese. Wir, das Publikum und ich, tauchen in diese Geschichte ein und begegnen der Zeit, dem Kindesmissbrauch und seinen grausamen Folgen. Eine fünf Jahre alte Kinderseele bleibt über vierzig Lebensjahre, in einer unerreichbaren Entfernung geschützt vor dem Bösen, in einem schwarzem Loch. Einsam, allein, hilflos, unsicher und voller Angst. Wir erfahren, das der Tod ein Freund geworden ist. Durch die bedingungslose Liebe eines anderen Menschen wird die Kinderseele erreicht und das vergessenen Gefühl von Glück und Zufriedenheit werden wieder geweckt. Durch die bedingungslose Liebe und das neu entdeckte, das schreiben, findet das missbrauchte Kind als heutiger Erwachsener eine Tür zu einem ganz besonderem Ort. Ein Ort ohne Gewalt, mit Frieden und voller Stille. Wenn der Schreiber sich in diesem Ort befindet, dann schafft er es, die Zeit still stehen zu lassen. Dann höre ich auf zu lesen. Ich bin nach knapp zwanzig Minuten am Ende meiner Geschichte angelangt. Ich schaue in die Gesichter meines Publikums. Viele von Ihnen sind noch ganz tief in und an dem Ort meiner Geschichte. Dann kommen auch Sie wieder an, in unseren gemeinsamen Raum. Applaus. Lang anhaltender Applaus. Ich bedanke mich für den Applaus.

 

Der Applaus, der Lärm, verstummt. Die Herausgeberin wartet, ganz bewusst. Fast zwei Minuten lässt sie uns warten. „Wenn der Lärm verstummt, bis Stille in dir ist.“ Kein Ton, kein Geräusch ist in dieser Zeit zu hören. Die Fotografen trauen sich nicht auf den Auslöser zu drücken. In diesen zwei Minuten verstehe ich alles. Durch meine Geschichte wurde ich gehört. Diese wundervollen Menschen hier, hören mir zu. Mir. Dem missbrauchten, fünf jährigem Kind. Wir sind für die Minuten des Zuhören eins geworden. Aufmerksamkeit. Verständnis. Zuhören. Verstehen. Einfühlung. Liebe- volle Blicke. Augen-Blicke. Gemeinsamkeit. Zuneigung. Öffnung. Dann kommt sie nach vorne. „Danke für die Stille“, sagt sie zu mir. „Gern geschehen“, antworte ich und gehe zu meinem Platz. Es folgen Worte der Herausgeberin in bezug auf meinen Vortrag. Es gehöre eine Menge Mut dazu, eine Geschichte zu schreiben und sie auch vorzutragen. Und ganz besonders, wenn ernste Themen, wie in meiner Geschichte behandelt werden. Die erste Pause wird bekannt gegeben. Ich bin noch ganz in meiner Geschichte und dem Eindruck der Stille gefangen. Dann kommen Besucher auf mich zu und möchten Autogramme. Von mir, der personifizierten Angst, Hilflosigkeit und Unsicherheit. Widmungen. Es ist doch mein erstes mal. Ich fühle mich wie der kleine, fünfjährige Junge, der unsicher in diesem großen Raum und dem Lärm steht. Er kommt doch heute das erste mal aus seiner Stille. Menschen, die ich heute zum ersten mal kennen lerne, sprechen mich und Alex auf den Missbrauch an. Der Ehemann der Gastgeberin erklärt mir, dass es die schönste Geschichte in der Anthologie sei. Er und ich sind uns bei diesen wenigen Worten sehr tief verbunden. Ich gebe weiter Autogramme und die Herausgeberin lädt mich zum Autorenworkshop der besten zehn Autoren und der Abschlusslesung ein. Dort wird es einen Sieger, den besten Autoren geben. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit und Zufriedenheit. In eine Widmung schreibe ich „Danke für diesen besonderen Moment der Stille.“

 

Ich hatte mit meiner Geschichte alles, was ich mir vorgenommen hatte, erreicht. An den Missbrauch von Kindern erinnert und für die Gegenwart wachsam gemacht. Und wir konnten gemeinsam in den von mir, mit meiner Geschichte, geschaffenen Ort eintauchen und die Zeit anhalten. Der Lärm verstummte und es war Stille in uns. Vor der Burg stehend, schauen wir noch einmal zurück. Dann küssen wir uns und ich spürte diese bedingungslose Liebe meiner Alex. Alex schaut mich an und sagt:“Das war klasse. Du hast das super gemacht. Der Applaus und dann diese Stille.“ Ich greife nach ihrer Hand:“Danke Schatz.“ Wir gehen zum Parkplatz und ich verstehe was uns Menschen in der Gemeinschaft stark macht. Wir müssen dem, der sprechen will oder muss, zuhören. Ich muss sprechen und schreibe es in meine Geschichten. Und Sie hören mir zu. Und ich brauche Sie, die Menschen, die mir zu hören. Heute habe ich es geschafft. Und es macht mich glücklich. Für einen kurzen Moment sind die Depressionen nicht mehr vorhanden. Und der Freidenker lernte an diesem Tag:“Zuhören macht die Menschen und mich glücklich.“