Das Sylt-Experiment; Eine Kriminal-Kurzgeschichte

 

Das Sylt Experiment

 

 

 

Vor mir steht ein großer Mann im weißen Kittel. Ich sehe Ihn etwas verschwommen. Der Himmel über uns ist strahlend blau. Ich höre das kreischen von Möwen. Die Luft riecht salzig und atmet sich wohltuend. „Wo bin ich ? Wer sind Sie ?“

 

Mein Name ist Bernd Behling. Ich bin Arzt. Sie sind hier auf der Insel Sylt. Sie sind hier in der Friedrichstraße 9 und wir sind hier ganz in der Nähe vom Bahnhof Westerland. Sie lagen hier vor unserer Praxis. Ich glaube Sie hatten einen epileptischen Anfall. Können Sie mir Ihren Namen sagen ?“

 

Meinen Namen ? Ich überlegte. Nein, verdammt. Ich kenne meinen Namen nicht mehr. Ich stand auf und schaute Dr. Behling in sein sonnen – gegerbtes Gesicht. „Nein, ich habe meinen Namen vergessen.“ Meine rechte Körperhälfte war wie gelähmt. Trotzdem humpelte ich torkelnd durch die Friedrichstraße Richtung Wasser. Obwohl es in meinen Ohren rauschte und pochte konnte ich das Meer hören. Es musste ganz nah sein. Passanten schauten mich ängstlich an und gingen mir aus dem Weg. Sie werden später erzählen, dass mein Gesicht wie aus Stein ausgesehen hat und in den Augen kein Leben mehr wahr. Jetzt hatte ich den Strand erreicht. Ich schaffte es bis zum Wasser. Dann zog ich mich aus und torkelte in die klare und kalte Nordsee. Die blauen Quallen an meinen Beinen spürte ich nicht. Das Wasser stieg mit jedem Schritt an mir hoch und die leichten Wellen umspülten meinen Körper. Dann schmecke ich aufrecht stehend das Salzwasser in meinem Mund. Ich spucke es aus. Gehe weiter. Das Wasser presst in meine Nasenlöcher und die Ohren. Ich halte die Luft an und höre das gurgelnde Geräusch der Nordsee. Alles ist klar und hell. Der Sand unter meinen Füßen weich.

 

Der Moment des Atem holen unter Wasser stand kurz bevor. Jetzt würde ich einatmen und meine Atemwege und Lungen sich mit dem kalten Salzwasser füllen. Ich schloss meine Augen und atmete ein. Dann wurde es schwarz um mich. Stille. Frieden.

 

 

 

Neben mir kniet ein großer Mann im weißen Kittel. Seine Haare und seine Kleidung sind nass. Der Himmel über uns ist strahlend blau. Er drückt mit seinen Händen auf meinen Brustkorb. Salzwasser spritzt aus meinem Mund in den warmen Sand. Ich erkenne den Mann. Es ist Dr. Behling.

 

Was machen Sie denn bloß ? Mein Gott, wenn ich Ihnen nicht gefolgt wäre. Sie können doch nicht einfach in das Wasser und sich...“ Passanten standen um uns herum. Ich schaute in Ihre mitleidigen Gesichter und Augen. Ein Suizid-Versuch. Das bekommt man nicht alle Tage mit. Hier auf Sylt ist eben immer was los. „Rufen Sie einen Krankenwagen“ schreit Dr. Behling in die Gaffer. „Nein“, sage ich und erhebe mich mit meinem nackten Körper. So wie mich Gott geschaffen hat gehe ich wieder torkelnd aus der Szenerie. Die Gaffer bleiben verstört stehen. Dr. Behling läuft mir hinterher. „So lasse ich Sie nicht gehen. Und ich lasse Sie auch nicht alleine.“ Er wirft mir seinen nassen Arztkittel über und begleitet mich. Er führt mich bis zur Pension Haus Diana in der Elisabethstraße. Anja Hansen ist eine gute Freundin. Dr. Behling klopft an der Tür. Anja Hansen öffnet die Tür. Sie fragt nicht. Führt mich gemeinsam mit Dr. Behling die weiße Holztreppe hoch und in das freie Zimmer.

 

Dann liege ich auf dem weichen Bett mit der blauen Seemannswäsche. Anja Hansen legt noch eine blaue Wolldecke über das Oberbett. „Ich bringe Ihnen gleich einen heißen Tee.“ Die beiden verlassen das Zimmer. Das Fenster steht auf. Das Haus steht direkt am Strand. Ich höre die Möwen kreischen. Die Nordsee rauscht behutsam an den Strand. Das leichte spielen der Wellen ist zu hören. Und dieser Geruch von Salz. Es klopft. Anja Hansen betritt den Raum. „Hier, Ihr Tee. Ich habe einen Schuss Rum mit im Tee. Sie dürfen doch Alkohol trinken ?“ Ich überlege. Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr über mich. „Ja, sicher. Danke Frau...?“ „Hansen, Anja Hansen. Da nich für.“ Sie verlässt den Raum und schließt die Tür. Ich trinke den heißen Tee und das tut gut.

 

Dann liege ich auf dem Bett und schaue aus dem Fenster in den blauen Himmel. Wer bin ich ? Was mache ich hier ? Was ist mit mir passiert ? Warum Sylt ? Dann spürte ich die Schmerzen in meinem Körper. Mein Kopf, der schwer wie Beton war und sicher gleich von meinem Hals abbrechen würde. Der Druck von innen hinter den Augen. Gleich fliegen mir die Augen aus dem Schädel. Das rauschen in den Ohren. Das pochen in den Ohren. Der Pfeifton in den Ohren. Meine rechte Körperhälfte war wie gelähmt. Speichel lief aus dem rechten Mundwinkel und tropfte auf meine nackte Haut. Alles dreht sich und ich hatte das Gefühl mich übergeben zu müssen. Auf meiner Brust lag eine Steinplatte mit dem Gewicht von mindestens 150 kg. Ich konnte nicht mehr atmen. Schweiß. Überall lief der Schweiß aus meinen Poren. Auf der Stirn, dort spürte ich ihn kalt. Unter den Armen. In den Kniekehlen. An den Füßen. Und diese durchgehende Übelkeit. Das waren Panikattacken. Meine Erinnerung kam wieder. Doch die Macht der Müdigkeit war stärker und ich fiel in den Schlaf in dem die Erinnerung auf mich wartete.

 

 

 

In der Nacht um 03:00 Uhr werde ich wach. Wieder die Panikattacken. Ich kann nicht atmen.

 

Alles dreht sich. Schweiß bricht aus. Übelkeit. Das Gefühl erbrechen zu müssen. Die rechte Körperseite wie gelähmt. Dann sehe ich vor mir die Bilder.

 

1969. November. Ein Schneesturm in der schwarzen Nacht. Es ist kalt in der Arbeitersiedlung im Sauerland. Der fünfjährige ist mit seinen kleinen Brüdern alleine in der 55 m² Wohnung. Der eiskalte Wind peitscht durch die einfachen Holzfenster. Das innen liegende Handtuch hält den Wind und die Kälte nicht ab. Der fünfjährige, Ich, friert. Es ist pechschwarz in dem 10 m² Kinderzimmer.

 

Die Brüder schlafen. Wir Kinder sind allein. Die Eltern feiern. Das machen Sie oft und lassen uns allein. Dann höre ich das Geräusch, das sich fremd anhört. Es kommt aus dem Korridor, der direkt vor dem Kinderzimmer liegt. Ich halte die Luft an. Das Blut rauscht und pocht in meinen Ohren.

 

Ich schwitze aus allen Poren und friere zugleich in der Kälte. Die Brüder schlafen. Mit all meinem Mut steige ich aus dem Bett und stehe barfuß auf dem kalten PVC Boden. Vorsichtig taste ich mich im Dunkel an meinem Bett entlang und strecke die Hand aus. Dann fühle ich die Strippe und ziehe einmal daran. Licht. Licht von der 60er Jahre Strippenlampe. Das macht Hoffnung und Mut.

 

Vorsichtig drücke ich die Klinke der Kinderzimmer Tür herunter. Es knarscht. Ein winziger Spalt ist auf und dann höre ich das Geräusch. Klack. Schwarz. Pechschwarz ist der Raum. Es war das klacken des Sicherungskasten. Jetzt stehe ich hier im Dunkel. Allein und hilflos. Voller Angst und Unsicherheit. Trotzdem gehe ich in den dunklen Flur. Ich taste mich an der Wand entlang. Dann spüre ich für den Bruchteil einer Sekunde das Leder. Leder von einem Mantel. Es fühlt sich kalt an. Mama und Papa haben keinen Ledermantel. Ein Auto fährt an der Siedlung vorbei. Für den Bruchteil einer Sekunde kommt das Licht des Scheinwerfers durch das Milchglas der Eingangstür.

 

Er steht vor mir. Groß. Sehr groß. Er trägt einen großen, schwarzen Hut. Seine Augen sind kalt und stechend. Eine Hakennase. Er grinst mich an. Es stinkt nach Alkohol. Dann sehe ich das Messer aufblitzen. Das letzte was mich meine Seele spüren lässt, ist das Pippi, das warm an meinen Beinen herunterläuft und sich zu einer Pfütze an meinen Füßen auf dem PVC bildet.

 

Dann falle ich in eine schwarzes Loch. 6 Meter pro Sekunde. 38 Jahre lang falle ich immer tiefer.

 

Ich bin auf Veranlassung meiner Seele 38 Jahre in einem Loch gefangen, dass Millionen von Kilometern von der Wirklichkeit, der Realität entfernt ist.

 

 

 

Ich sitze auf dem Bett in dem kleinen Zimmer. Die Erinnerung ist zurück. Ich bin Schriftsteller und habe ein Stipendium für 8 Wochen hier auf Sylt gewonnen. Es sind Kurzgeschichten und Romane, die ich seit 3 Jahren schreibe. Es geht dabei um das zentrale Thema Kindesmissbrauch. Mein erstes Buch, das schwarze Loch, ist ein Psychothriller und handelt von einem missbrauchten Kind, dass nach 38 Jahren von seinem Missbrauch erfährt. Es ist eine gespaltene Persönlichkeit und die Seite des Dämons übernimmt das Kommando. Mit dem Ziel der Rache.

 

Die Erinnerung kommt weiter mit stechenden Bildern in weißen Blitzen. Ich habe alles verloren.

 

Kinder. Job. Haus. Meine große Lebensliebe. Dann sehe ich meinen Amoklauf. Menschen brechen sterbend vor mir zusammen. Blut. Schreie. Explosionen. Ich fliehe. Vor der Polizei. Schüsse. Mein Hund wird getroffen und bleibt liegen. Ich muss weiter laufen. In den Wald. Hier kenne ich mich aus. Und es ist dunkel. Mir gelingt die Flucht. Ich stehe an der Autobahn A45 Richtung Dortmund. Am Parkplatz. Ein Trucker lässt mich rein. Er fragt nicht. Er fährt nach Sylt. Bis Westerland. Dann stehe ich vor der Praxis von Bernd Behlinger und breche zusammen.

 

Anja Hansen klopft an der Tür und öffnet Sie. „Moin, Frühstück.“ Das Zimmer ist leer. Der Fremde ohne Namen ist verschwunden. Sie greift nach Ihrem Handy und ruft Ihren Freund Bernd Behlinger an. „Er ist weg Bernd.“ „Ich rufe die Polizei an. Danke Anja.“

 

 

 

Ich stehe im Kirchweg 21. Polizeirevier Sylt. Ich drücke auf den Klingelknopf an der Tür.

 

Der Öffner summt und ich trete ein. „Guten Morgen, ich möchte eine Selbstanzeige machen.“

 

Moin. Kommen Sie bitte hier herein und setzen sich.“ Wie ist denn Ihr Name und was ist passiert ?“ Ich erzähle das Erlebte und meinem Gegenüber ist die Farbe des Lebens aus dem Gesicht gewichen. Alles wurde auf Tonband aufgenommen. Hauptmeister Petersen führt mich in einen abschließbaren Aufenthaltsraum. „Kaffee?“ „Gerne.“

 

 

 

Ich sitze auf dem Stuhl vor dem einfachen Tisch. Das hier muss ich jetzt durchziehen. Nur durch das versetzen in diese Rolle bekomme ich authentische Reaktionen der Beteiligten. Genau so werde ich es in meinen neuen Roman wiedergeben. Auch das tatsächlich erlebte aus 1969. Es wird bestimmt einen Riesen Krach geben, wenn ich die Situation aufkläre. Eine weitere Bestätigung, das Schriftsteller verrückt und unberechenbar sind. Sie machen alles für den Eintritt in eine neue Geschichte. Und Sylt hat jetzt die Geschichte von Ihrem geheimnisvollen Fremden.