Grabstein der Wahrheit

 

Grabstein der Wahrheit

 

 

 

Es ist ein grauer Novembertag und ich stehe vor dem Friedhof in Nachrodt-Wiblingwerde. Die Wolken hängen tief und es geht ein kalter Wind, den ich deutlich durch meine warme Kleidung spüre. Die Stimmung ist still und traurig. Durch das kleine Eisentor am Friedhofseingang gehe ich auf den Friedhof. Der kalte Boden knarrt beim auftreten und meine Füße durchbrechen beim gehen das Meer der Herbstblätter,wie ein Eisbrecher einen gefrorenen Fluss bricht. Ich bin für meine Geschichte auf der Suche nach einem außergewöhnlichem Grabstein, von dem mir ein Bekannter erzählte. Es dämmert schon leicht und vereinzelt flackern noch Kerzenlichter auf den Gräbern. Die letzten, noch brennenden, Lichter des Allerheiligen Festes, das uns vor wenigen Tagen zur Erinnerung an die Toten aufforderte. Ich schaue auf die Grabsteine und jedes dieser Gräber hat sicherlich seine ganz persönliche Geschichte zu erzählen. Die Jahreszahlen zeigen es uns an. Da wurden Kriege, Hungersnöte, Liebe, Entwicklung, Arbeit, Bauten, Katastrophen und Familie durchlebt und trotzdem kam irgendwann der Tod. Ein Friedhof konfrontiert uns unmittelbar mit dem, was wir sehr gerne verdrängen, den Tod. Es ist die Natürlichkeit unseres Lebens, die uns Angst macht. Wir werden geboren, existieren eine uns unbekannte Lebenslänge und sterben. Erstaunlicher Weise ist das in unserer Kultur nicht real verstanden und wird verdrängt. Und jedes mal, wenn wir mit dem Tod berührt werden, verstehen wir diese enorme Wichtigkeit. Ich lebe noch. Das Leben, das größte Geschenk der Menschheit und dennoch gehen wir oberflächlich mit seiner Wahrnehmung um. Dann erreiche ich das Grab mit dem außergewöhnlichen Grabstein. Das Grab ist schlicht, ohne Bepflanzung und mit Bruchsteinen eingefasst. Sie könnten aus dem naheliegenden Steinbruch von Lasbeck stammen. In der Mitte steht stolz und aufrecht ein sehr großes Exemplar eines Bruchsteins. Mit einem Steinmeißel sind die folgenden Informationen eingemeißelt: Bernd Niggemeier, geboren am 18.06.1964 und ermordet am 09.November 1969. Gestorben am 30. Juni 2006. Selbsttötung am 09.November 2011. www.berndniggemeier.de

 

Ich stehe verwirrt vor dem Grabstein und spüre, wie mich die Angst, vor diesem wahrlich unheimlichen Grabstein, befällt. Ich ziehe meine Kamera aus der Jackentasche und mache Fotos von dem Grabstein. Wer bist Du ? Was hattest Du für ein Leben ? Und warum bist Du dreimal gestorben ? Ich würde die Antworten finden und machte mich auf den Weg. Der Wind wehte nach wie vor sehr heftig und die Baumkronen der Eschen beugten sich nach mir, als wenn Sie mich von meinem eingeschlagenem Weg abhalten wollten. Eine Stunde später saß ich vor meinem Laptop und tippte gespannt die Adresse der Website ein. Die Seite öffnete sich und ich starrte mit aufgerissenen Augen und großer Aufregung auf das, was sich auf dem Bildschirm vor mir abspielte. Die Startseite ist ein Grab auf dem eine Grabplatte liegt. Auf der Platte stehen die gleichen Worte, wie auf dem Grabstein in Wiblingwerde. Ich klicke auf den Grabstein und er schiebt sich zur Seite. Ich schaue in ein schwarzes Loch und falle mit dem Bildschirm in das schwarze Loch. Der Fall wird begleitet von dem traurigen weinen eines kleinen Kindes. Die weinende Stimme des Kindes bedrückt mich und ich kann nicht mehr richtig durchatmen. Der freie Fall hört auf und wir gelangen in eine Siedlung. Autos aus den sechziger Jahren stehen auf der kleinen Straße, die mit Schnee bedeckt ist. Die Häuser sind grau und trostlos. Der Anblick erzeugt eine traurige Stimmung in mir. Dann ertönt eine Männerstimme, die ich auf ein Alter zwischen vierzig und fünfzig Jahren schätze. Sie erzählt mir folgende Geschichte. „Es ist der 09.November 1969 in der Siedlung Eggenscheid. Es ist eine Arbeitersiedlung. Ich wohne im Haus Nr. 7 und bin fünf Jahre alt. Es ist Nacht und ich liege mit meinen zwei jüngeren Brüdern im circa 10 m² großem Kinderzimmer. Im Zimmer ist es kalt, es gibt keine Heizung. Die Fensterscheibe ist von innen gefroren und auf der Fensterbank liegen Handtücher. Mama hat sie in die Wasserrinne gestopft. Ich höre von draußen den Winterwind und spüre, wie er seine Kälte durch die Ritzen des Fensters in unser kleines Zimmer drückt. Ich friere so schrecklich, es ist so kalt. So kalt wie in dieser Siedlung. Wir sind allein in der Wohnung. Unsere Eltern feiern und haben uns allein gelassen. Das war sehr oft so. Dann höre ich das Geräusch. Es kommt aus dem Flur und es klingt fremd, nicht vertraut. Da ist etwas, was nicht hier her gehört. Ich spüre deutlich die Bedrohung und bin allein. Meine Brüder schlafen. Ich steige aus meinem Bett und spüre an meinen Füßen die Kälte des PVC Boden. Meine Beine zittern und ich spüre den Angstschweiß auf meinem Körper. Mein Herz pocht mir bis zum Hals. Dann erreiche ich im Dunkeln die Strippenlampe mit dem sechziger Jahre Design. Ich ziehe an der Strippe und das Licht erfüllt den kleinen Raum. Meine Brüder werden wach und schauen mich schlaftrunken an. Ich halte meinen Zeigefinger an meine Lippen. Das Zeichen für nicht sprechen. Der Mut ist zurück gekommen mit dem Licht und der Anwesenheit meiner Brüder. Ich halte mein Ohr an die Tür, die zwischen unserem Zimmer und dem Flur steht. Kein Geräusch zu hören und doch spüre ich ganz deutlich, dass etwas Fremdes in unserem Flur ist. Und ich fühle die Bedrohung. Leise und mit meinem ganzen Mut drücke ich vorsichtig die Türklinke nach unten. Ich öffne die Tür ganz vorsichtig und schaue durch den schmalen Spalt in den Flur. Nichts zu erkennen. Ich öffne die Tür und mache den Schritt in den Flur. Dann passiert es. „Klack.“ Niemals mehr kann ich dieses klackende Geräusch vergessen. Es war das klackende Geräusch des Sicherungskasten. Und sofort war es pechschwarz dunkel. Ich ziehe an der Strippe der kleinen Lampe. Nichts, es bleibt dunkel und ich stehe hier mutterseelenallein. Ich setzte zum Schrei an, der meine ganze Angst, Hilflosigkeit und Unsicherheit in diese kalte Siedlung brüllen soll. Doch meine Stimme versagt und ich habe das Gefühl zu ersticken, bekomme einfach keine Luft mehr. Die Angst schnürt meine Kehle zu.

 

Die Beine zittern wieder und ich kann einfach nicht mehr atmen. Mein Atem steht still. Ich stehe wie gelähmt an dieser Stelle. Und ich spüre und fühle ihn, den Fremden, in diesem Raum. Ein Urinstinkt lässt mich an der Wand tastend voran gehen, mit dem Ziel des Sicherungskasten. Das Licht wird mir helfen und der Spuk ist dann vorbei, hoffe ich. Dann erreiche ich die Eingangstür und erstarre erneut. Sie ist offen. Ich drücke mich dagegen, mit aller Kraft meines kleinen Jungenkörpers. Sie lässt sich nicht schließen. Für einen Moment kommt mit dem Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos ein schwaches Licht in den Raum. Da steht er vor mir, mit der rechten Hand am Sicherungskasten. Ich schaue in seine toten Augen und er grinst mich an. Ich sehe das Messer im Scheinwerferlicht aufblitzen und rieche seinen Schweiß. Er stinkt nach Zigarettenrauch und Alkohol. Dann packt er mich und hält mir die Klinge an meinen Hals. Das letzte, was mich meine Seele spüren lässt, ist mein Pippi, dass an meinen Beinen herunterläuft und sich zu einer Pfütze an meinen nackten Füßen sammelt. Zugleich lässt mich meine Seele zum Schutz in ein schwarzes Loch fallen. 39 Jahre lang falle ich immer tiefer in dieses schwarze Loch meiner Seele. In der Physik fällt ein Körper 10 Meter pro Sekunde. Somit fiel ich 864.000 Meter am Tag, 314.496.000 Meter im Jahr und 12.265.344 km in den 39 Jahren. Geschützt in meiner Seele vor den Bildern und Erinnerungen des ersten Missbrauchs an mir am 09.November 1969, dem noch viele folgend sollten. Ich war als fünf jähriges Kind in meinem Körper gefangen und war 44 Jahre eine menschliche Hülle, die aus dem kopiertem Rollenverhalten ihrer Umwelt existierte. Ein Autist der besonderen Art oder ein Zombie der besonderen Art. Der fünfjährige Mensch wurde am 09.November 1969 durch Missbrauch getötet.

 

 

 

Ich fühlte mich gegenüber meinen Eltern immer wie ein Fremder. Und eine immer existierende Traurigkeit begleitete mich in meinem Leben. Ganz besonders setzte ich mich immer wieder Extremsituation aus. Angst vor dem Tod kannte ich jedenfalls nicht. Zurückblickend weis ich jedoch, dass ich alles mögliche unternahm, um die Hülle, die Rolle, zu zerstören. Ich war als Kind zurück gezogen und in mich gekehrt. Meine Aura umgab eine permanente Traurigkeit. Die Bilder aus der Kindheit sind immer noch mit Sperrvermerken in meiner Erinnerung versehen. An eines kann ich mich jedoch sehr deutlich erinnern. Es ist bereits dunkel und es ist Winter. Überall sehe ich hohe Schneeberge in unserer kalten Siedlung. Ich bin allein und friere. Einsam streife ich durch die Siedlung und schaue in die beleuchteten Fenster der Familien. Ich spüre die Wärme, die aus diesen Fenstern dringt. Eine Sehnsucht nach Liebe, Wärme und Geborgenheit erfasst mich. Und ich stehe hier allein und friere. Ich hatte kein Verbot nach Hause zu kommen. Ich hatte auch nichts schlimmes angestellt. Und doch bevorzugte ich die Kälte und Einsamkeit der kalten Siedlung. Niemand suchte nach mir. Niemand hörte meine Hilfeschreie.

 

Und in den folgenden Jahren ertappte ich mich immer wieder mit heimlichen Blicken in Räume, aus denen in den dunklen Jahreszeiten ein behagliches und wärmendes Licht auf den Gehsteig scheint.

 

In der Schule hatte ich Schwierigkeiten und verstand die Dinge immer sehr spät. Meistens war auch nur die Hülle anwesend und ich befand mich mit dem fünfjährigen in den Tiefen meines schwarzen Loches.

 

Ich konnte sehr gut zeichnen und bemalte unzählige Blöcke mit meinen Zeichnungen. Ebenfalls verschlang ich Bücher und Comics. Karl May und seine Helden begleiteten meine Jugend und meine Abenteuer mit Old Shatterhand gaben mir den Zufluchtsort, den einer wie ich benötigte. Durch die Comic-Figuren, voran Superman, lernte ich eine wichtige Fähigkeit in meinen Alpträumen. Das Fliegen. Die Alpträume verfolgten mich bis Anfang dreißig. In jedem Traum ist der Ausgangspunkt der Flur in der Siedlungswohnung im Haus Nr. 7 aus jener ersten Nacht im November 1969. Das Licht geht aus und ich stehe wie gelähmt in diesem Flur. Ich lerne in den Träumen mit der Kraft meiner Superhelden zu fliehen. Durch die unverschlossene Eingangstür. Es spielt sich zu allen Tageszeiten ab. Doch jedes mal sind ER und ICH allein in dieser Siedlung der toten Seelen. Ich fliehe vor Ihm und er kommt näher. Ich spüre ihn in meinem Nacken. Ich laufe auf die Spielwiese oberhalb der Siedlung. Er ist dicht hinter mir. Ich laufe auf den Wald zu. Doch der Weg wird zu steil und ich langsamer. Ich höre seinen Atem hinter mir und er muss ganz nah hinter mir sein. Du musst ihn täuschen und austricksen. Ich stoppe und schlage einen Haken und laufe zurück, gegen seine Richtung. Als ich an ihm vorbei laufe, schaue ich in seine kalten Augen. Gleich erreiche ich den steilen Abhang. Dort wird er mich einholen, den Berg herunter. Ich konzentriere mich und glaube an mich. Dann bewege ich meine Arme und verliere den Boden unter den Füßen. Ich schwebe durch die Luft. Die Angst ist weg. Ich habe einen Weg gefunden vor Ihm zu fliehen.

 

Ab dem vierzehnten Jahr ging ich in den Ferien arbeiten und sparte das Geld. Mit fünfzehn Jahren fing ich an zu trinken, so wie alle anderen auch. Mit siebzehn beging ich die ersten Diebstähle und knackte Autos. Ebenfalls zapften wir das Benzin der Autos ab. Es folgte das Scheitern an der höheren Handelsschule und eine Lehre als Industriekaufmann. In dieser Zeit ließ ich keine Schlägerei aus. Bei einer Messerstecherei schnitt ich meinem Gegner das linke Ohr ab. Ich saß zweimal im Gefängnis der Polizei und schreckte auch vor der Staatsgewalt nicht zurück.

 

Ich fickte die Sekretärin in meiner Ausbildungszeit und unzählige andere Frauen. Das Alter spielte dabei keine Rolle. Und ein Ruf, der wie eine Sucht wirkte, zog mich immer wieder in das Bordell. Mein Spitzname war in dieser Zeit Charles Bukowski und ich liebte seine Bücher. Alles sollten Akte der Selbstzerstörung sein. Ich war auf der Suche und ahnte die Lösung. Es musste Liebe sein. Die Liebe musste bedingungslos sein. Und ich fand diese Liebe in der Geburt meiner Kinder. Ihre Liebe und meine Liebe zu Ihnen änderte mich. Ich spürte etwas, das ich bisher nicht kannte. Es war das Gefühl von absoluter Liebe, die mich unendlich Glücklich machte und mir die Kraft und den Antrieb zum Leben gab. Meine Kinder hatten mit Ihrer Liebe den fünfjährigen in mir erreicht. Eine Liebe, die mich in 12 Millionen Kilometer Entfernung erreichte. Viel später, nach 15 Jahren, sollte mir schmerzlich klar werden, wie stark diese Liebe war. Im Beruf sehr erfolgreich baute ich für uns in Wiblingwerde ein Haus. Wir lebten glücklich in unserem Haus. Und dann passierte es. Ich saß an einem Freitag im Spätherbst vor dem Kamin und schaute in das Feuer. Der Hund lag neben mir. Dann hörte ich das Geräusch aus dem Keller, aus dem Besucherzimmer. Ich ging die Treppen herunter um nach zu schauen. Als ich die Tür des Gästezimmers öffnete sah ich das unglaubliche. Meine Exfrau, nackt mit dem Nachbarjungen. Ich sah alles in Zeitlupe und hörte die Geräusche wie durch einen Nebel. Das ich ihn nackt auf die Straße geschmissen hatte, nahm ich ebenfalls nicht richtig wahr. Ebenfalls nicht die schreienden Kinder und die schreiende Exfrau. Ich ahnte nur, dass ich meine Kinder verlieren werde und wieder in das schwarze Loch fallen werde. Genau das passierte dann auch. Die Scheidung und das aufhetzen der Kinder gegen mich, ihren Vater. Ich verlor meine Kinder. Und ich starb über den Schmerz dieses Verlustes. Ich brauchte den Alltag mit den Kindern und ihre Liebe wie ein Antidepressiva, meine Medizin zum leben. Die Medizin wurde mir entzogen und ich starb an dem Entzug. Meine Seele ließ mich zum Schutz wieder in ein schwarzes Loch fallen. Das war am 30. November 2006.

 

Es folgte ein schwerer Burn out. Starke Depressionen setzten ein. Tägliche, immer wiederkehrende, schwere Panikattacken. Mein starker Körper wurde immer schwächer. Mit unzähligen Flaschen Bier versuchte ich erneut mich zu zerstören. Dann lernte ich sie kennen. Meine große Lebensliebe.

 

Sie kam wie ein Engel aus dem Nichts. Sie war einfach da und liebte mich, bedingungslos. Ich schöpfte neue Hoffnung und versuchte erneut aus dem schwarzen Loch zu entkommen. Dann kamen wie aus dem Nichte die Bilder der Erinnerung. Eine schwarze Perücke, ein grell geschminktes Frauengesicht, ich sitze nackt auf einem Kindertöpfchen vor Erwachsenen in der Mitte eines Raumes, Pornofilme, mein Dämon mit seinen glühenden und roten Augen. Und immer wieder die Szene im Flur aus der Siedlung. Die Bilder kommen Nachts, immer ist um 03:00 Uhr, wenn ich voller Panik wach werden. Oft ist meine rechte Körperhälfte gelähmt und der Speichel läuft aus meinem Mund. Ich stammle durch den gelähmten Mund: „Di e weine, di e mien weine.“(Diese Schweine, diese miesen Schweine) Das alles ist fremd für mich und macht mir Angst. Und ich spüre eine Wut, die mir noch mehr Angst macht. Mein Gefühl sagt mir, dass ich missbraucht wurde. In 2010 mache ich eine Therapie und in dieser Zeit lässt mich meine Seele sehr weit zurück blicken. Sie nennt mir Namen und zeigt mir Bilder. Bis ich die Gewissheit habe und die Therapie verlasse. Und Sie, meine große Liebe, war immer an meiner Seite. Ich fühlte mich geborgen und geliebt. Das Gefühl von Glück kam langsam zurück.

 

Doch für das Realisieren meiner Vergangenheit zahlte ich mit hohen Preisen. Panikattacken waren meine täglichen Begleiter. Den gutbezahlten Job konnte ich nicht mehr machen. Die Erinnerung an die Rollen und meine Hülle war unerträglich. Ich wurde arbeitslos und verlor zum zweiten mal ein Haus. Wir hatten keinen Rückzugsort mehr, den wir so dringend benötigten. Der Mut verließ mich und ich hatte keine Kraft mehr zu kämpfen. Dann hörte ich auf zu existieren. Ich starb am 09.November 2011 das dritte mal. Im Internet eröffnete ich mit dem Synonym Bernd Niggemeier diese Seite und konnte mit Hilfe von Gerald B., dem Pastor von Wiblingwerde, das Grab gestalten.

 

Gerald kennt meine Geschichte und wir wollen mit dieser Geschichte an den Kindesmissbrauch erinnern und Sie für die Gegenwart wachsam machen.“

 

 

 

Die Stimme verstummte und der Grabstein schob sich wieder auf das Grab. Das kleine Kind weinte nicht mehr, es lachte nun. Die Seite wurde schwarz. Ich starrte immer noch auf den Bildschirm. Diese Geschichte hatte mich fasziniert und ließ mich nicht mehr los. „Du lebst also noch“, sagte ich laut vor mir her.

 

 

 

Am nächsten Tag stand ich um die Mittagszeit bei strahlend blauen Himmel und Sonnenschein vor diesem besonderen Grab. Ich legte den Blumenstrauß auf das Grab und meine eigenen Erinnerungen kamen aus weiter, verdrängter, Entfernung wieder. Sie schmerzten und ich verstand die Botschaft des Grabsteins. Wir, die Missbrauchten, haben die Aufgabe, den Schmerz und das Leid der Vergangenheit in der Gegenwart zu erinnern und die Menschen wach zu machen. Oftmals liegt der Missbrauch um uns herum näher als wir es wahrhaben wollen.

 

 

 

„Da wird er sich aber freuen“, sagte der Mann hinter mir und riss mich aus meinen Erinnerungen und Gedanken. Ich drehte mich um und er stand da, zwei Meter von mir entfernt. „Sie sind es, oder ?“ Er hatte seinen Hut tief in das Gesicht gezogen und ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. „Es geht nicht darum wer etwas ist oder nicht. Wir sind ein Teil des Grabsteins und haben eine Aufgabe. Du hast deine Aufgabe verstanden.“ Er drehte sich um und verließ den Friedhof. Ich stand wie angewurzelt vor dem Grab und wäre ihm so gerne gefolgt. Nach vielleicht fünf Minuten hatte ich mich erholt und ich versprach mir und dem Grabstein in meinen Geschichten an den Missbrauch von unschuldigen und hilflosen Kindern zu erinnern und die Menschen für die Gegenwart wachsam zu machen.

 

Die Kurzgeschichte wird im Cenarius Verlag, Hagen, veröffentlicht. Das Erscheinungsdatum wird vorraussichtlich Juni 2013 sein.

Weitere Infos folgen.

 

Diese Geschichte sollte in den Friedhofsbiographien die Zug-Nummer werden.

Leider ist es nicht mehr zu einer Veröffentlichung gekommen.